Während sich unser Flugzeug durch die Nacht zurück nach Europa bewegt, kreisen meine Gedanken um die Erlebnisse der letzten Tage. Es gibt vieles zu verarbeiten, zu analysieren und einzuordnen.
Es ist klar, dass man in einem Land wie Indien, nicht unsere Maßstäbe zu Grunde legen darf. Man trifft auf Jahrhundertealte Traditionen und Strukturen, die nicht von heute auf morgen unserem westlichen Weltbild angepasst werden können. Wie weit müssen sie das überhaupt? Sicher gibt es auf dem Gebiet der Menschenrechte oder den Vorstellungen wie ein Arbeitsplatz aussehen sollte, Standards die nicht zur Diskussion stehen. Manches Mal kann man sich aber auch fragen ob eine Gesellschaft nicht gerade deshalb relativ reibungslos funktioniert, weil sie eben so ist, wie sie ist.
Atuls Firma ist sicher ein Vorzeigeobjekt, das sich in vieler Hinsicht, nicht nur just for complience, an unserem westlichen Wertemodell orientiert. Dafür ist er zu sehr weltgewandter Kaufmann. Aber auf der andern Seite ist er eben auch gläubiger Hindu, der sicher einer anderen Gesellschaftsschicht entstammt, als die meisten seiner Angestellten. So sah man schon manchesmal, wie er zeigte wer ist und welchen Respekt er deshalb erwartet. Für uns manchmal vielleicht etwas befremdlich, aber bei genauerer Betrachtung wird auch in unserer Gesellschaft Klassenbewusstsein kommunizieren, nur eben subtiler. Und so verhält es sich mit vielen Dingen, die in anderen Kulturkreisen eben anders, aber trotzdem vielleicht nicht schlechter organisiert sind.
Von daher war es am ersten Tag auf der Konferenz auch interessant zu sehen, welches Interesse dort an GOTS und der damit einhergehenden Transformation besteht. Ob jetzt rein aus wirtschaftlichem Interesse weil man neue Geschäftsfelder sieht oder von seinen Kunden dazu gedrängt wird, weil man ein nachhaltiges Bewusstsein entwickelt hat oder einer Mischung aus allen dreien ist zunächst zweitrangig. Dass ein ernsthafte Wille vorhanden ist, zeigten die auftretenden Fragen und schon alleine die Tatsache, dass bis zur letzten Minute jeder Stuhl im Saal besetzt war.
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Als engagierter Mensch ist es natürlich schön zu sehen, wie sich Teile einer Branche mit Abertausenden von Beschäftigten in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung bewegen. Durch das globale Ausmaß und die Marktbeteiligung internationaler Großkonzerne bestehen aber auch Gefahren, die letztendlich einer wirklich nachhaltigen Entwicklung eventuell sogar entgegen stehen könnten. Hierauf müssen die Verantwortlichen sowohl in der Politik als auch auf Seite der Richtlinien-Ersteller sicher ein besonderen Augenmerk legen.
Ohne Frage sind Großkonzerne wie C&A, Lidl oder Kaufland, die in Mumbai immer wieder erwähnt wurden, der Treibstoff dieser Entwicklung. Selbst wenn sie es gegenüber der Öffentlichkeit nur wenig kommunizieren, ist es ihre Finanzkraft und ihr Volumen, das den Motor am Laufen hält und Neubauten wie Atuls Fabrik erst ermöglichen.
Allerdings liegen hier eben auch die größten Gefahren für eine globale nachhaltige Entwicklung. Zu schnell geraten die Produzenten in den Schwellenländern in eine ungute Abhängigkeit. Zu schnell bestimmen die Großen die Strukturen und Regeln, und zu schnell werden die Hürden für kleinere Neueinsteiger zu hoch gelegt. Die Gefahr von Monopolen ist hier sicher nicht ganz von der Hand zu weisen.
Wenn mir auf dem Kongress ein Textilproduzent erzählt, dass er einst zu 80% für einen einzigen Kunden produziert hat, dieser ihn dann aber immer länger warten lies, kurzfristig die Kollektion änderte und einfach unplanbar wurde, gibt mir das schon zu denken. Mittlerweile hat er sich wieder zurückgezogen und überlegt ober er die aktuell 60% nicht sogar auf 40% reduzieren soll. Schließlich habe er 6.000 Beschäftige, für die er eine gewisse Planungssicherheit benötige. Zumal er für seine Bio-Produkte ja nicht einmal einen angemessen besseren Preis erzielen kann.
Nachhaltiges Engagement wie es heute von vielen Global Playern praktiziert wird, darf von daher nicht nur auf die verwendeten Ressourcen und Produktionsbedingungen beschränkt sein. Auch die im Eröffnungsvortrag hervorgehobene ökonomische Dimension muss auf allen Seiten berücksichtigt werden.
Fragwürdig wird es für mich dann, wenn Unternehmen ihrem bestehenden Geschäftsmodell einfach den Mantel der Nachhaltigkeit überstülpen möchten. Den Erzeugern keinen höheren Preis für Öko-Produkte bezahlen zu wollen, kurzfristig die Kollektionen zu ändern und unplanbar zu sein oder Produzenten mit nicht einhaltbaren Versprechen zu ködern, widersprechen für mich dem Gedanken der Nachhaltigkeit. Das renditegetriebene System des Shareholder Values lässt sich nur bedingt auf diesen Rahmen anwenden. Nachhaltige Entwicklung muss auf einer Partnerschaft beruhen, bei der alle Seiten einen Mehrwert erzielen und der Hersteller nicht nur als austauschbarer Lieferant betrachte wird.
Nachhaltigkeit bedeutet weit mehr als Bio und Fairtrade.
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Eine andere Gefahr, die ich bei der Transformation der Nische in den Mainstream sehe, kommt von den Siegel an sich. Ein Thema das allerdings nicht nur GOTS betrifft. Es ist aus den oben schon beschriebenen Gründen verständlich, dass die Organisationen versuchen, möglichst große Unternehmen zu gewinnen. Nur darf es meiner Meinung nach nicht dazu kommen, dass sich die Siegel nur noch an deren Strukturen orientieren. Egal welches Siegel, je größer und bekannter es wird, desto größer wird die damit verbunden Bürokratie, während sich die Ansprüche an die Nachhaltigkeit im Supply Chain meist nur unwesentlich verbessern.
Eine Nachhaltige Entwicklung bedingt auch eine Vielfalt am Markt. Es kann nicht im Sinne der Sache sein, wenn sich die Strukturen so entwickeln, dass nur noch große Unternehmen die Anforderungen leisten können. Die Arbeit der Siegel ist eine wichtige Sache; ich als deutscher Wiederverkäufer kann ja selbst nur bedingt meine Lieferkette kontrollieren. Werden die Verwaltungsaufgaben aber so aufwändig, dass am letzten Glied der Kette diesen kaum mehr nachgekommen werden kann, wird es schwierig.
Aber kann es das Ziel sein, dass die Siegel nur noch von Großunternehmen genutzt werden können? Ich finde es eine äußerst bedenkliche Entwicklung, wenn wir am letzten Tag in der Office unsere Herstellers sitzen, über zukünftige Projekte sprechen und dabei in Erwägung ziehen, bei manchen Artikeln auf den Einsatz des GOTS-Siegels zu verzichten, weil sich der Aufwand dafür im angedachten Prozessablauf nicht abbilden lässt. Dann muss eben wieder 100% kbA reichen und wer ein Label mit dem Siegel wünscht, bezahlt einen Aufpreis.
Ob das im Sinne der Erfinder ist?
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